Denkt man an die chinesische Videoplattform TikTok, kommen ­einem wahrscheinlich nicht zuerst politische Botschaften in den Sinn, eher Probleme mit dem Thema Schutz von Daten, die auf chinesischen Servern gespeichert werden und dort angeblich für die chinesische Regierung frei zugänglich sind. Seit jedoch die US-Amerikanerin Feroza Aziz in einem ihrer Make-Up-Tutorials über die Situationen der in China unterdrückten muslimisch-gläubigen Uiguren gesprochen hat und ihr Video über 1,4 Millionen Mal angesehen wurde, ist klar – auch politische Inhalte finden ihren Platz auf TikTok, unterliegen jedoch der Überprüfung und Zensur der chinesischen Betreiber der Plattform.

Potenzial will genutzt sein

TikTok gehört seit diesem Jahr zu den am meisten heruntergeladenen Apps. Die globale Nutzer*innenzahl liegt bei mittlerweile 800 Millionen Menschen. Doch die Beliebtheit der Kurzvideoplattform, die gerade bei jüngeren Menschen unter 18 Jahren besonders beliebt ist, haben erst einige wenige Politiker*innen für sich entdeckt. Zu ihnen gehört, Felix Locke von den Freien Wählern in Bayern. Er kritisiert, dass es Parteien bisher verschlafen haben, diesen neuen Trend mitzugehen. Auch die SPD-Kommunalpolitikerin für Perlach-Waldperlach (Bayern) Helena Schwinghammer erklärt, dass sie die Erfahrung gemacht hat, dass es „auf TikTok möglich ist, auch ohne hunderte von Followern innerhalb von wenigen Stunden weit über 10.000 junge Menschen zu erreichen“.

“Meiner Meinung nach wird die Rolle von Tik Tok in der politischen Kommunikation deshalb nach wie vor unterschätzt”.

Helena Schwinghammer (SPD)

Diese besondere Wirkungskraft und die enorme Reichweite in der jüngeren Zielgruppe ­macht TikTok für Parteien und Politiker*innen – besonders vor dem Hintergrund, dass bei Kommunalwahlen bereits mit 16 gewählt werden kann – attraktiv. Und auch das Bun­desgesundheitsministerium nutzt die Möglichkeit, um in Zeiten der Pandemie mit Aufklärungs­videos “ möglichst schnell alle Teile der Bevölkerung zu erreichen“.

Hingegen hat die Bundeswehr erst im Mai ihren offiziellen TikTok-Kanal, aufgrund der Diskussion um die datenschutzrechtlichen Bedenken mit dem Verweisgelöscht, dass sie auf ihren anderen Social-Media-Plattformen weiterhin aktiv bleiben wird.

Junge Menschen als Hauptzielgruppe

Klar ist, dass es sich bei TikTok um ein soziales Netzwerk handelt, dass im Gegensatz zu den etablierten sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter eine deutlich jüngere Zielgruppe erreicht. So sind 69% der aktiven User*innen zwischen 16-24 Jahre alt . ­

“Wir reden hier über 10 Millionen Nutzer, davon einige Millionen ( junger) Menschen mit Wahlberechtigung 2021. Da wollte ich definitiv mitmachen”.

Thomas Sattelberger (FDP)

Doch wie kann man die Nutzer*innen für politische Themen begeistern? Laut Helena Schwinghammer haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen grundsätzlich ein hohes Interesse an gesellschaftlichen Themen. Ihrer Erfahrung nach ist es besonders wichtig, Politik greifbar zu machen und dafür zu begeistern – möglichst mit Humor.

Die Politik auf TikTok

Die beschriebenen Möglichkeiten und positiven Erfahrungen derjenigen, die die Plattform für ihre politische Arbeit nutzen, klingen vielversprechend. Das Potenzial der Plattform sieht der FDP-Bundestagsabgeordnete Thomas Sattelberger auch vor dem Hintergrund der kommenden Bundestagswahlen 2021. „Einige Millionen (junger) Menschen“ nutzen TikTok, darunter auch einige mit Wahlberechtigung. Allerdings betont er, dass es sich um keine politische App handelt und mit „viel Dynamik, Kreativität und Entertainment“ an die Sache herangegangen werden muss. So kann am Ende auch die ein oder andere politische Botschaft vermittelt werden. In jedem Fall scheint wichtig zu sein: Authentizität und das Einlassen auf die Plattform, um gut anzukommen.

Doch auch TikTok hat seine Schattenseiten. Immer wieder wird die scheinbar so ungezwungene und unterhaltsame App für den Umgang mit dem Daten- und Ju­gendschutz seitens Politik und Öffentlichkeit kritisiert. Aber auch Zensur von bestimmten politischen Themen, wie beispielsweise den Protesten in Hongkong 2019, ethnischen Konflikten oder auch der Ausblendung von Menschen mit Behinderungen wird den Betreibern vorgeworfen. Über lokale Richtliniensammlungen werden die bestimmten Inhalte, die nicht auf TikTok sichtbar sein sollen, festgelegt. Beispielsweise ist es in der Türkei nicht erlaubt, sich kritisch gegenüber dem Präsidenten Erdoğan oder Staatsgründer Kamal Atatürk zu äußern. Lokale Moderator*innen des Betreibenden entscheiden schlussendlich nach den lokalen Richtlinien von TikTok über die Inhalte der Plattform.

Die indische Regierung hat zuletzt nach vielen Wochen mit einem Verbot von TikTok und 58 weiteren chinesischen Apps auf die Situation reagiert, da sich herausgestellt hat, dass ­Nutzer*innen ausspioniert wurden . Auch US-Präsident Donald Trump hat bereits Anfang August per Dekret ein Verbot der App unterschrieben. Hintergrund ist der Vorwurf, dass das Unternehmen Nutzer*innendaten an China weitergeben würde. Der „digitale Wirtschaftskrieg“ zwischen den beiden Ländern dreht sich sicherlich auch um die Frage der Vormachtstellung bei der Nutzung von Daten. Das Wall Street Journal  behauptet sogar, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg den US-Präsidenten zu Sanktionen gegenüber TikTok bewegt haben soll.

TikTok weist die oben beschriebenen Vorwürfe bislang zurück, obwohl ein kürzlich geleaktes Dokument  zeigt, wie Inhalte auf der Plattform gelöscht bzw. zensiert werden. In Zuge dessen ist es fraglich, wie viele politische Inhalte überhaupt auf TikTok platziert werden können, denn laut der Nutzungsordnung sehen die Betreibenden keine politische Werbung vor.

„Mit Datenschutz ist im digitalen Zeitalter jeder konfrontiert“

Zentral ist und bleibt deswegen die Frage, wie sich Politiker*innen öffentlich gegenüber der Kurzvideoplattform positionieren sollen. Auch andere Social Media Plattformen wie Facebook oder Instagram werden für ihre Datenschutzrichtlinien kritisiert, sagt Thomas Sattelberger. Trotzdem sollte das Ausmaß von Vorwürfen gegenüber TikTok nicht damit relativiert werden. Die Kontroversen um die datenschutzrechtlichen Bedenken, aber die gleichzeitigen Vorteile, wie beispielsweise die Reichweite, sind groß.

Die Politiker*innen, die auf unsere Anfragen reagiert haben, sind sich deswegen einig, dass der Datenschutz ein sehr wichtiges Thema in dieser Debatte ist und sie sich ihrer Verantwortung darüber bewusst sind. Allerdings ist die „Öf­fentlichkeitsarbeit und die Wichtigkeit von sozialen Medien unbestreitbar“, so Theresa Brücker, stellvertretende Kreissprecherin der Linke Essen. Und auch die SPD-Kommunalpolitikerin Schwinghammer hebt hervor, dass sie es wichtig findet, dass Parteien und Politiker*innen auf TikTok aktiv ­sind, damit es „nicht länger unpolitisch bleibt“. Ziel sollte es sein, dass die Nutzer*innen auf TikTok auf ein breites Informationsangebot zurückgreifen können, um sich auch eine Meinung zu verschiedenen politischen Themen bilden zu können.

Und wie geht es weiter?

Die Frage der zukünftigen Nutzung von TikTok für politische Inhalte bleibt weiter zu diskutie­ren. Thomas Sattelberger sieht es aufgrund der großen Reichweite und seinem Erfolg auf der Platt­form es als eine langfristige Notwendigkeit diese auch zu nutzen. Und auch die Linke Essen betont, dass, trotz der Bedenken, politische Öffentlichkeitsarbeit auf Social Media wichtig ist.

Die Freien Wähler aus Bayern sprechen sich ebenso für TikTok aus. „Wir wollen die Menschen dauerhaft an unseren Ideen teilhaben lassen und wir wollen deren Ideen aufnehmen. Wenn dadurch eine Bindung entsteht, haben wir mehr erreicht als jeder kurzweilige Wahlkampf. Uns geht es um Dauerhaftigkeit – in der Kommunikation, für das Land und für die Belange der Menschen“.

Trotz der Vorteile die TikTok bieten mag, steht die Kritik sich davon zu distanzieren im Raum.  Ob die Plattform zukünftig freie Meinungsäußerungen zulassen wird, bleibt fraglich und auch hinsichtlich des Datenschutzes sind noch einige Fragen zu beantworten. “Nutzerinnen und Nutzer müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Daten nicht missbräuchlich verwendet werden”, so auch Alexander Schweitzer (SPD). Der politische Druck, der auf der Plattform lastet, ist jüngst auch dem Chef Kevin Mayer  zu groß geworden, sodass er nach nur wenigen Monaten jetzt seinen Rücktritt mit der Begründung, dass sich seine Rolle in dem Unternehmen verändert hätte, ankündigte. Letztendlich scheint das Problem bei TikTok bzw. dem dahinterstehenden Unternehmen Bytedance zu liegen. Es bleibt abzuwarten, ob Bytedance sich weiterhin politischen Inhalten und Meinungen verweigern kann. Sollte TikTok jedoch in Zukunft weiterhin politische Inhalte zensieren, wird es vermutlich langfristig einen größeren Schaden als Nutzen haben. Das bisherige Verbot in Indien und das möglicherweise bald hinzukommende in den USA zeigen, dass die derzeitige Strategie im weltweiten Kontext nicht dauerhaft umsetzbar zu sein scheint. Ob sich Deutschland an diesen Ländern in der Debatte ein Beispiel nehmen wird, wird die Zukunft zeigen.